Literaturnobelpreis 1928: Sigrid Undset

Literaturnobelpreis 1928: Sigrid Undset
Literaturnobelpreis 1928: Sigrid Undset
 
Die norwegische Schriftstellerin wurde »hauptsächlich im Hinblick auf ihre gewaltigen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter« mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
 
 
Sigrid Undset, * Kalundborg (Dänemark) 20. 5. 1882, ✝ Lillehammer 10. 6. 1949; ohne Schulabschluss zunächst Arbeit als Schreibkraft, 1924 Konversion zum Katholizismus, 1940 Flucht in die USA vor den deutschen Besatzern, 1945 Rückkehr nach Schweden.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Kurz nach Erscheinen ihres Debütromans »Frau Martha Oulie« (1907) schrieb Sigrid Undset an eine Freundin: »Ich kann nicht sagen, dass ich mich für irgendwelche »Probleme« interessiere, bloß für Menschen, aber da ist es sehr oft die Ehe, die das Schicksal einer Person, oder zumindest einer Frau, bestimmt.« Das Interesse an der Ehe, an der Beziehung der Geschlechter zueinander zieht sich in der Tat durch alle Romane Undsets, und sehr oft sind es daraus sich entwickelnde schuldhafte Verstrickungen, die den Ausgangspunkt einer dramatischen Handlung bilden.
 
 Historische Romanzyklen
 
Die Trilogie »Kristin Lavranstochter« mit den Teilen »Der Kranz«, »Die Frau« und »Das Kreuz«, (1920-22), eines der Hauptwerke der norwegischen Romanliteratur, erzählt die Lebensgeschichte der Kristin, Tochter des wohlhabenden Gutsbesitzers Lavrans. Noch als Kind dem zuverlässigen Simon Darre zur Ehe versprochen, wird sie von leidenschaftlicher und anhaltender Liebe zum blendend aussehenden, aber sprunghaften und unbesonnenen Erlend Nikulaussøn erfasst, als dieser sie vor drohender Vergewaltigung rettet, und gibt sich ihm hin. Bereits schwanger, erzwingt sie gegen den Willen des Vaters die Heirat mit Erlend, obwohl dieser schon einer anderen die Ehe versprochen und mit ihr Kinder hat.
 
Diese Konstellation, die am Ende des ersten Teils erreicht ist, zeichnet die weitere Lebensgeschichte vor: Schuldgefühle und Glücksverlangen, brennende Liebe und Untreue, Erlends Verlust seiner Güter und Kristins vorbildliche Pflichterfüllung als Mutter und Hausfrau bilden das Spannungsfeld, in dem sich die weitere Lebensgeschichte abspielt. Erst nach dem Tod von Erlend findet Kristin ihren Frieden, als sie sich ins Kloster zurückzieht, wo sie bei der Pflege von Pestkranken 1349 selbst stirbt.
 
Der Doppelroman »Olav Audunssohn auf Hestviken« und »Olav Audunssohn und seine Kinder« (1925-27) spielt, durch gemeinsame Schauplätze und Nebenfiguren mit »Kristin Lavranstochter« verknüpft, etwa eine Generation früher, am Ende des 13. Jahrhunderts, und ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu ihr. In seinen jungen Jahren begeht Olav, noch vorchristlichen Vorstellungen von Ehre und Blutrache verpflichtet, zweimal Totschlag, beide Mal wegen Ingunn, seiner späteren Frau. Er muss fliehen und nach seiner Rückkehr erfahren, dass Ingunn ein Kind von einem anderen Mann erwartet. Uneingestandene Schuld und mangelnde Reue im Kontrast zu christlichen Idealen bilden hier das zentrale Romanthema.
 
In beiden Romanzyklen ist die Entwicklung der zentralen Gestalten ganz individuell und psychologisch plausibel, also modern gezeichnet. Im Nobelpreiskomitee führte dies zu einigen kritischen Äußerungen, Undset habe sich einer »unhistorischen Konstruktion« schuldig gemacht. Aber Undset war überzeugt, dass »sich die Herzen der Menschen in allen Zeiten nicht im geringsten ändern«.
 
Die Charaktere sind eingezeichnet in ein groß angelegtes Panorama der spätmittelalterlichen Welt Norwegens, in dem jedes Detail, von der Kleidung und dem Alltagsleben bis zur patriarchalischen Gesellschaftsordnung, der Rolle der Kirche, der Adligen, des Königs, historisch präzise recherchiert ist. In Verbindung mit einer leicht altertümelnden Sprache und der Anlehnung an den altisländischen Saga-Stil erzielt sie so einen starken Realismus-Effekt. Auch das Weltbild der Zeit ist sehr genau rekonstruiert: Bei allen Relikten der vorchristlichen, heidnischen Zeit, die immer wieder durchbrechen, herrscht ein unbezweifelbarer Glaube an eine von Gott eingerichtete Weltordnung. Sowohl Kristin, die immer wieder der (als heidnisch charakterisierten) Naturgewalt der Liebe folgt, als auch Olav, der sich gezwungen sieht, seine Ehre durch die vorchristliche Blutrache wiederherzustellen, wissen, dass sie sich an der göttlichen Ordnung vergangen haben, und erreichen erst durch ihre späte kirchliche Beichte inneren Frieden, der zugleich Frieden mit Gott ist. Undset zieht den Leser in den Bann dieser Welt, indem sie den allwissenden Erzähler ohne Distanz zu diesem Weltbild erzählen lässt.
 
 Religiöser Hintergrund
 
Dass Undset auf diese Art und Weise erzählt, ist kein Zufall: Aufgewachsen in einem protestantisch-liberalen Elternhaus und nach eigenem Bekunden zunächst Agnostikerin, entwickelte sie während des Ersten Weltkriegs auf der Suche nach einer festen Wertordnung angesichts der verstörenden Erfahrungen eine Nähe zum Katholizismus und trat 1924, mitten in der Arbeit an den Mittelalterromanen, der katholischen Kirche bei — damals ein Skandal im protestantisch-staatskirchlichen Norwegen. Profitierten diese Romane davon noch unmittelbar, sind die seit Ende der 1920er-Jahre entstandenen Erzählungen, die überwiegend wieder zeitgenössische Themen aufgriffen, stärker von einem lehrhaft-katholischen Charakter geprägt.
 
Außer in Skandinavien war Undset in Deutschland besonders erfolgreich, vor allem mit »Kristin Lavranstochter«. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs erreichte die Trilogie hier eine Auflage von einer Viertelmillion. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hegte Undset doch gegen dieses Land zeitlebens Vorbehalte. Seit 1933 erhob sie immer wieder ihre vielbeachtete Stimme gegen die nationalsozialistische Ideologie. Und als Knut Hamsun, der andere damals noch lebende norwegische Literaturnobelpreisträger (1920), 1935 die Auszeichnung des im KZ eingesperrten Pazifisten Carl von Ossietzky mit dem Friedensnobelpreis kritisierte, war sie es, die eine heftige Kampagne entfesselte, die den norwegischen Schriftstellerverband an den Rand der Spaltung trieb. In einem Überblick über die norwegische Literaturgeschichte erwähnte sie Hamsun — symptomatisch für ihren Hang zu radikalen Entscheidungen — mit keinem Wort. 1940, als deutsche Truppen Norwegen besetzten, musste sie ins amerikanische Exil fliehen. »Madame Dorothe« (1939), als erster Teil einer mehrbändigen Reihe gedacht, blieb ihr letzter veröffentlichter Roman. Auch nach ihrer Heimkehr 1945 verfasste sie nur noch Aufsätze zu aktuellen Fragen und Biografien katholischer Heiliger.
 
Heute hat sich das Interesse von den großen historischen Zyklen zu Undsets Gegenwartsromanen verlagert. Gleichzeitig finden die Frauengestalten mit ihren Eheproblemen eher kritische Beachtung.
 
W. Vollmer

Universal-Lexikon. 2012.

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